Beitrag zum Zoom-Gottesdienst am Ökumenischen Kirchentag 2021

Ich möchte heute die Geschichte von einer meiner besten Freundinnen und mir erzählen.

Wir kennen uns seit der gemeinsamen Zeit in der Oberstufe. Ich werde nie vergessen, wie wir jeden Donnerstag unsere Freistunden miteinander verbracht haben. Wir haben über Gott und die Welt diskutiert. In sehr vielen Punkten sind wir sehr unterschiedlich. Sie katholisch, ich evangelisch, sie begabt in Mathematik, ich eher planlos. Doch was uns wahrscheinlich am ehesten und auf den ersten Blick voneinander unterscheidet, ist unsere Größe. Sie ist klein und ich bin groß. Mehr als 60 cm liegen zwischen uns.

Seitdem wir gemeinsam unterwegs sind, schaue ich mit einem anderen Blick auf die Welt. Ich schaue genauer hin. Auf einmal sehe ich das Fehlen von rollstuhlgerechten Rampen oder Aufzügen. Treppen und steile Berge werden auf einmal zu Hindernissen. Doch davon haben wir uns nie unterkriegen lassen. Wir haben wahre Abenteuer zusammen erlebt. Wir haben viel gelacht und geweint. In erster Linie haben wir eine ganze Menge voneinander gelernt.

Da war dieses Musik-Festival, das wir zusammen besucht haben. Anstatt die schlechte Sicht von der Rolli-Tribüne aus hinzunehmen, haben wir uns mitten in die Menge gestürzt. Wir hatten die beste Zeit! Trotz immer noch eingeschränkter Sicht waren wir mitten im Geschehen. Umgeben von fröhlichen, feiernden Menschen und bunten Lichtern. Von den Schultern eines Kumpels aus hatte meine Freundin alles im Blick. Seitdem schaue ich jedes Mal genauer hin. Ich frage mich, wie inklusiv und gerecht sind die Räume gestaltet, in denen wir uns bewegen?

Mit 18 ging es dann mit dem Autofahren los. Sie hat ein sehr schickes, eigens für sich umgebautes Auto, damit Gas und Bremse zu erreichen sind. Mir fallen immer die Blicke auf, wenn wir aus dem Auto aussteigen. Die Menschen drehen sich verwundert um und sehen uns verdutzt an. Seitdem schaue ich jedes Mal genauer hin und frage mich: Warum diese Blicke? Merken sie gar nicht, wie ausgrenzend und diskriminierend das wirken kann?

Irgendwann haben wir die heimischen Landstraßen in der Provinz verlassen und sind zusammen gereist. Unser Roadtrip nach Berlin war ein wirkliches Abenteuer. Ich habe gelernt, dass das Reisen als Begleitperson eines Menschen mit Schwerbehindertenausweis zwar sehr günstig ist, aber dafür auch oft unheimlich kompliziert gemacht wird. Ich habe gemerkt, dass viele Regeln eindeutig von nicht-behinderten Menschen geschrieben wurden.

Auf der Museumsinsel in Berlin legten wir uns mit der Security an. Sie wollten uns verbieten, mit dem Laufrad meiner Freundin in die Gemäldegalerie zu gehen. Wir sollten doch lieber einen Rollstuhl benutzen. Allerdings machte das überhaupt keinen Sinn, denn mit einem Rollstuhl konnten wir beide nun wirklich nicht umgehen. Damit hätten wir wahrscheinlich eher ein Gemälde umgerissen oder eine Statue angerempelt – bei unserer Tollpatschigkeit.

Seitdem schaue ich genauer hin und frage mich: Wer schreibt unsere Regeln, Gesetze und Richtlinien? Wurde über sie auf Augenhöhe verhandelt?

Ich glaube, was unsere Freundinnenschaft ausmacht ist, dass wir beide uns schon immer auf Augenhöhe begegnet sind. Das ist möglich durch eine Menge Empathie, und weil wir uns gegenseitig aktiv zuhören und genau hinschauen.

Das Kirchentagsmotto „schaut hin“ bedeutet mir im Kontext unserer Freundinnenschaft viel.

Ich reflektiere ständig meine eigene Denkweise, mein Handeln und meine Sprache. Viele Formulierungen, die wir aus Gewohnheit verwenden, können andere Menschen verletzten und ausgrenzen. Wahrscheinlich habe ich auch beim Verfassen dieser Geschichte Worte verwendet, die nicht ganz angemessen waren. Doch wenn wir uns wirklich auf Augenhöhe begegnen wollen, dann sollten wir den Mut haben Fehler zu machen. Wir alle waren bestimmt schon einmal ableistisch – also diskriminierend gegenüber Menschen mit Behinderung. Ich glaube, dass es wichtig ist, sich das einzugestehen. Dann können wir versuchen, es beim nächsten Mal besser zu machen.

Sophia, 15. Mai 2021