Übers Leben reden – Rückblick auf einen Sommertag beim Hospizdienst der VMLS, Hanau
Woran denke ich, wenn ich an Hospizdienst denke? Welche Bilder entstehen im Kopf? Ich gebe zu: es sind vor allem Schwerkranke, die ich vor Augen habe: gezeichnete Menschen, denen das Sterben anzusehen ist. Da geht es mir vermutlich wie vielen anderen auch.
Mit diesen Bildern entsteht eine eigentümliche Distanz: so sieht mein Leben nicht aus. Ich weiß zwar um die Wahrheit der mittelalterlichen Weisheit „mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen“ – doch sind die Bildwelten von Tod und Leben getrennt und meist verorte ich mich ganz eindeutig bei denen, die mit dem Sterben noch wenig zu tun haben.
Neugierig mache ich mich auf den Weg nach Hanau, zum Hospizdienst der VMLS. Und ich bin überrascht, wie viel wir an diesem Tag vom Leben reden werden.
Menschen ein Wegstück begleiten – das leisten die ehren- und hauptamtlichen Mitarbeitenden des Hospizdienstes. Das kann ein kurzes Wegstück sein, wenige Stunden oder Tage bis zum Tod – oder ein langes: von einer ersten Diagnose bis nach dem Tod eines lieben Menschen durch die Trauer hindurch. Es kann auch ein Kontakt in den Sozialen Medien sein – oder ein gemeinsamer Ausstellungsbesuch von „Gemeinsam unterwegs. Eine Ausstellung zu Leben und Endlichkeit.“
So verschieden die Menschen und ihre Leben sind, so verschieden kann Wegbegleitung sein. Was allen gemeinsam ist, ist die Haltung: Sterben und Tod sind keine Tabuthemen, Schmerz muss nicht weggelächelt werden, Brüche gehören zum Leben und niemand wird bloß vertröstet. Menschen lassen sich auf echte Begegnungen ein.
So auch an diesem Sommertag mitten im Juli: da liegt nichts Schweres in der Luft, wenn wir vom Tod und von Hospiz reden. Wenn wir uns auf ganz unterschiedlichen Ebenen mit dem Thema befassen: Eine Vorstellung der Konzeption, die neue Bedeutung von aufsuchendem Arbeiten und Begegnung mit Menschen in deren Alltag (Stichwort „Pop-up-Hospiz“) oder der Frage, wie angemessen und ohne Druck über eigene Wünsche und Vorstellungen vom Sterben geredet werden kann.
All diese Fragen zum Sterben führen zu ganz vielen verschiedenen Gesprächen über das Leben: was ist mir wichtig und wo sind meine Prioritäten? Warum fällt mir manches leicht und manches schwer? Wie gehe ich mit meiner eigenen Verletzlichkeit und Schwäche um? Wie beeinflusst mein Glaube mein Leben? Und: möchte ich überhaupt darüber zu reden?
Es geht um die Reaktionen, die man erfährt, wenn man erzählt, womit man sich beruflich beschäftigt.
Und es geht um politische Themen: Fachkräftemangel in der Pflege – finanzieller Druck, der auf dem gesamten System lastet – die Frage, ob der Geldbeutel über gute Betreuung bis zuletzt entscheiden darf.
Als evangelischer Hospizdienst wird hier eine bestimmte Haltung gelebt und für diese geworben: jedes Leben ist wertvoll und von Interesse. Es wird einander auf Augenhöhe begegnet. Wir haben Respekt vor der Spiritualität und dem Glauben der anderen. Wegbegleitung ist ein Angebot, das unterschiedlich gelebt werden kann.
Wir wünschen uns, dass es noch ein bisschen bunter wird in Kirche und Diakonie: dass Diversität spürbarer wird. Dass Gottes Geistkraft weht, Menschen ansteckt und Kreativität entsteht: neue Wege ausprobiert werden, neue Gedanken geteilt, neue Menschen erreicht. Das ist kirchlich-diakonische Kultur, Palliativkultur, Hospiz 2.0: bereit, sich einzulassen auf das, was da am Wegrand wartet und zugleich bereit, den eigenen Glauben an das Leben weit über den Tod hinaus zu teilen.
Auf der Heimfahrt denke ich, es müsste anders heißen: Mitten im Tod sind wir vom Leben umfangen: eine ansteckende Lebendigkeit, die auch in Trostlosigkeit ein Hoffnungslied auf den Lippen hat – Vertrauen in die eigene Lebenskraft und die der anderen: wir dürfen uns einander zumuten – das Wissen darum, dass wir verschieden leben und doch gemeinsam.
Ein ganz besonderes Dankeschön an alle, die ich an diesem Tag in Hanau treffen durfte – ganz besonders an Silke Heller, Marion Perner und Kerstin Slowik, die so viel Zeit und vieles mehr mit mir geteilt haben. Danke!
Pfarrerin Dr. Angela Rascher, Diakonie Hessen
Pfarrerin Dr. Rascher gehört seit 1. Juni 2022 zur Abteilung „Gesundheit, Alter, Pflege“ der Diakonie Hessen. Als Theologische Referentin ist ihr Themengebiet die Hospizarbeit. Darüber hinaus ist sie für das Thema „Diakonische Kultur“ zuständig.