Beitrag zum Zoom-Gottesdienst zum Ökumenischen Kirchentag 2021

Als Kerstin angefragt hat, ob ich mir vorstellen könnte bei diesem Gottesdienst mitzuwirken, war ich überrascht und sofort begeistert. Nicht nur weil ich Kerstin schon fast mein ganzes Leben kenne, sondern auch, weil ich schon öfter hingeschaut hatte, was sie tut und mir sehr gefallen hatte, was ich da sehen konnte. Durch die heutigen Möglichkeiten des multimedialen Hinschauens, können wir Menschen verfolgen, die wir aus den Augen verloren haben, können teilhaben, ohne direkt teilzunehmen, so wie hier, eben digital, dezentral. Ich fotografiere gerne und hatte mir deshalb überlegt über den Blick des Fotografen, über das Sehen von Menschen, in das Thema einzusteigen.
Der Text „Schau hin“ von Kerstin, die Wanderausstellung „Gemeinsam unterwegs“ und ein Zitat von Rolf haben mich dann aber bewegt, meinen Beitrag kurzfristig zu ändern. Denn:

„Dies ist meine Zeit, dies ist mein Leben. Was mir wichtig ist, entscheide ich allein“. Rolf Zuckowski

Und da hier jetzt meine Zeit ist und es auch um mein Leben, mein Erleben, als Arzt gehen soll, möchte ich versuchen euch und Ihnen hier zu vermitteln, was mir wichtig ist, so wie ich es auch meinen Assistenzärztinnen und -ärzten versuche zu vermitteln, es versuche vorzuleben. Denn gute Medizin lebt vom Hinschauen, wird nur menschlich mit Empathie, kann nur so sein, was sie im Namen vorgibt zu sein, nämlich „Humanmedizin“.

Schau hin

Was willst Du tun und was lassen, wie ist Dein Plan?
Und wichtiger – was sollst Du tun, was sollst Du lassen, was ist sein Plan?

Sieh, höre, fühle in den Raum.
Müssen wir aufhalten, erhalten oder nachgeben, einsehen?

Den Menschen loslassen, aber nicht ohne ihn mit aller Wärme zu halten?
An der Hand, fürsorglich und nicht am Leben fest, verbissen?

Hospizarbeit, palliative Versorgung und Intensivmedizin sind keine Gegensätze. Sie sind nicht selten „gemeinsam unterwegs“, wir machen ähnliche Erfahrungen, erleben ähnliche Geschichten. Erleben Menschen in Grenzsituationen, Menschen in den letzten Momenten ihres Lebens, Angehörige, die liebe Menschen verlieren. Intensive Momente. Intensive Medizin. Intensivmedizin, für mich ein Spezialgebiet, meine Leidenschaft. Zum Retten, zum Zurückholen gemacht, manchmal doch „nur“ zum Begleiten und zum Lindern in der Lage. Umgangssprachlich wird Intensivmedizin auch oft als Apparatemedizin bezeichnet. Apparatemedizin, die nur funktionieren und helfen kann, wenn die Benutzerinnen, die an die Apparate angeschlossenen Menschen richtig wahrnehmen. Sie müssen hinschauen, den kranken Menschen verstehen, es müssen also Technik und Empathie „gemeinsam unterwegs“ sein. Und sie müssen erkennen, wann Hilfe nicht mehr Heilung bedeuten kann, sondern nur noch Linderung.

Es kommt dann oft die Frage auf, ob wir denn nun nichts mehr tun wollen, ob wir die Therapie einstellen. Wir stellen die Therapie aber nur um, wir ändern das Ziel, machen vielleicht einige Dinge weniger, aber nie nichts. Und das ist auch nie die einfache Lösung. Denn man muss viel wissen, um wenig zu tun.

Schau hin

Was kannst Du messen, was überwachen?
Was musst Du fühlen, was erfragen?

Sieh, höre, fühle in den Raum.
Lies‘ in und zwischen den Zeilen, höre auch das Ungesagte

Gib Zeit und nimm Dir Zeit
Wende Dich zu und nicht ab.

Eine richtige Diagnose zu stellen braucht gelegentlich Zeit. Zeit, die man sich nehmen muss, Zeit, die man den Patientinnen und Patienten geben muss. In ihren Worten werden sich entscheidende Hinweise finden, durch zuvor angesammeltes Wissen werden erhobene Befunde und Hinweise zusammengeführt – eine Diagnose entsteht in Zusammenschau und Beurteilung von Beschwerden, Erfragtem und Beobachtetem. In „Diagnose“ steckt das altgriechische „gnosis“ – Erkenntnis. Und nicht alles was bekannt ist wird auch erkannt. Erkennen erfordert genaues, sorgfältiges Hinschauen.  Denn: „Schauen ist mehr als sehen. Schauen bleibt stehen und übernimmt Verantwortung“, so sagte es die Präsidentin des Ökumenischen Kirchentages im Oktober 2019.

Schau hin

Nimm wahr, bleib‘ stehen.
Übernehme Verantwortung, tritt ein.

Sieh, höre, fühle in den Raum.
Gehe voran und scheue keine Richtungsänderung

Tue, was Du tust mit Sorgfalt
Gebe, was Du gibst mit Fürsorge

Im angloamerikanischen Raum heißt „Intensivmedizin“ „intensive care“ – „intensives Kümmern“. Die “Intensivstation“ heißt „intensive care unit“, also eine Einheit für intensives Kümmern. Ein Platz für intensive Fürsorge. Eine so viel schönere Beschreibung der Arbeit, die dort geleistet wird. Intensive Fürsorge ist ein Bedürfnis und keine ortsgebundene Leistung. Sie kann überall und jederzeit entgegengebracht werden. Fürsorglich und sorgfältig zu sein, das erwarte ich von meinen Assistenzärztinnen und -ärzten während ihrer Ausbildung auf der Intensivstation. Ich erlebe in Notfallsituationen oft die Konzentration vieler Beteiligter auf unsere Monitore und Messwerte und fordere häufig beim Dazukommen dazu auf, trotz oder gerade wegen aller Hektik, einen Schritt zurückzutreten und den Menschen im Mittelpunkt des Geschehens zu betrachten, wenn auch nur kurz, dafür aber intensiv und sorgfältig. Passt, was ich am Monitor sehe zu dem vor mir liegenden Menschen und seinem Befinden? Passt meine Handlung zu seinem Willen, haben wir das gleiche Ziel? Sind wir „gemeinsam unterwegs“?

Was ich von meinen Kolleginnen erwarte, wünsche ich mir von uns allen. Ich wünsche mir, dass wir uns mehr Fürsorge entgegenbringen. Ich wünsche mir, dass wir sorgfältig miteinander umgehen. Lasst uns offen für neue Blickwinkel sein und Verständnis für neue Erkenntnisse und abweichende Ansichten zeigen. Lasst uns unsere Umwelt wahrnehmen und nicht nur ansehen. Lasst uns auf Menschen zugehen und nicht nur an ihnen vorbei. Lasst uns miteinander reden und lasst uns unserem Gegenüber vor allem zuhören. Lasst uns stehen bleiben und Verantwortung übernehmen. Wir sind „gemeinsam unterwegs“. Schaut nicht weg – schaut hin.

Achim Kress, 15. Mai 2021