Zimmer 3

Es ist 1996, ich bin 22jährige Schülerin im Mittelkurs der Ausbildung zur Krankenschwester. Im zweiten Lehrjahr darf ich einen Wunscheinsatz wählen. Ich möchte gerne auf die Knochenmark- und Stammzelltransplantationsstation. Also alles Menschen, die Krebs haben, überwiegend Leukämie. An meinem ersten Tag, im Spätdienst beginne ich mit meinem Kollegen den Rundgang durch die Zimmer, schauen wie es den Patienten geht. Ich kenne die Station, war schon mal hier, wenn auch nur kurz und nur ein-, zweimal. Mein Rundgang führt mich zu Zimmer 3, eine orangefarbene Tür wie alle anderen auch.

Und plötzlich sehe ich diese Tür, wie sie bei meinem Besuch vor vielen Jahren war – zwei Wäscheabwurfbehälter davor, der Desinfektionsmittelspender, die Schilder, die auf die Umkehrisolation hinweisen und dass das Zimmer nur mit Schutzkleidung und Mundschutz betreten werden darf. Hinter der Tür liegt mein Vater, gerade mit seinem eigenen Knochenmark transplantiert, in der Hoffnung, den Krebs nach vielen erfolglosen Chemotherapien doch noch zu besiegen.
Diese emotionale und visuelle Erinnerung nimmt mir für einige Minuten die Luft, ich muss meinen Atem und meine Tränen kontrollieren. Der Kollege an meiner Seite kennt mich von damals, ich war etwa im Teenager Alter. Er hat selbst eine Tochter, nur ein bisschen jünger als ich. Er ist neben mir, bei mir, begleitet mich. Er ist auch da, als vier Jahre später auch mein Mann in Zimmer 3 liegt. Mein Kollege gehört dorthin, auf diese Station, auf der täglich, stündlich Menschen um ihr Leben kämpfen. Er arbeitet heute noch dort.

Zimmer 3 habe ich als fertige Krankenschwester dann noch viele Male betreten, eine der prägendsten Stationen in meinem Berufsleben. Persönliche Erfahrungen mit Tod und Sterben machen verletzlich, aber auch authentisch. Sie gehören zum Leben.
Mein Vater hat es damals nicht geschafft, mein Mann glücklicherweise schon.

Silke Heller, 08. Februar 2022