Beitrag zum Zoom-Gottesdienst im Advent 2021
Ich habe gestern dieses Foto gemacht. In der Geschichte Vom Ankommen, die ich heute erzählen möchte, spielt dieser Weihnachtsbaum eine kleine Rolle. Er steht auf unserer Intensivstation.
„Komm erstmal an“, sagt meine Kollegin zu mir, als ich auf der Intensivstation ankomme. Ich bin außer Atem, die Treppe war lang, die Nacht war kurz, ich hatte Rufdienst. Es war viel los, mein Handy klingelte oft, mein Sohn war krank, meine Frau auch, an Schlaf nicht zu denken. Jetzt bin ich spät dran, aber der Tag ging früh weiter.
„Komm erstmal an.“ – Das heißt runterfahren, durchatmen, einen Kaffee trinken und dann beginnen das Chaos zu sortieren. Es ist voll auf Station, ein weiterer Patient ist angekündigt. Eine vermutete Ankunftszeit, männlich, 58 Jahre, Atemnot, höchste Behandlungsdringlichkeit. Mehr wissen wir noch nicht, mehr gibt die Anzeigetafel nicht her. Aber der Rettungsdienst wird bald mit ihm ankommen, dann wissen wir mehr.
Ankommen. Ankommen verbinde ich persönlich am ehesten mit Wohlfühlen, Behaglichkeit oder Sicherheit. „Seid ihr gut angekommen?“, fragen wir unseren Besuch oft, wenn die Heimreise etwas länger als bis zum Nachbargrundstück ist. Wir möchten wissen, ob es unseren Lieben gut geht, ob sie angekommen sind.
Der angekündigte Patient ist angekommen, Fieber, Luftnot, Todesangst – wie so oft in diesen Tagen. Was bedeutet es für ihn, bei uns anzukommen? Fremde Gesichter, maskiert, in Schutzanzügen, laute Stimmen, hektisches Treiben auf den Fluren. Dauerhaft piepsende Alarmtöne an den Monitoren, etwas melodischer klingende Alarmschleifen aus den Beatmungsmaschinen der Nachbarzimmer. Kann man dieses Ankommen mit Wohlfühlen und Behaglichkeit verbinden? Zunächst wohl kaum. Wohl aber mit etwas Sicherheit. Das sichere Ufer, es ist zumindest in Sichtweite. Es wird sich um einen gekümmert, viele helfende Hände versuchen Verbesserung herbeizuführen.
Wir legen dem Patienten eine Beatmungsmaske an und einen weiteren Zugang, um Flüssigkeit und Medikamente zu verabreichen. Wir messen Blutdruck, bestimmen den Sauerstoffgehalt des Blutes, machen eine Röntgenaufnahme und eine Ultraschalluntersuchung. Der Zustand des Mannes scheint sich zu stabilisieren.
In der Ecke steht ein Weihnachtsbaum. Es ist Advent.
Mein Kaffee ist kalt. Ich beschließe mir einen neuen zu holen und setze mich in meinem Büro vor den Computer. Endlich ist Zeit in Ruhe Laborwerte anzusehen, Röntgenbilder zu betrachten und auf ein Neues zu versuchen das Chaos zu sortieren. Es gelingt mir und es entsteht so etwas wie ein Plan für den Tag. Ich lehne mich zurück, atme aus, trinke einen letzten Schluck warmen Kaffee und bin, wenn auch mit etwas Verzögerung, in meinem Arbeitstag angekommen.
Dann klingelt das Telefon, man möchte mir ein Gespräch durchstellen, ein Angehöriger wolle mich sprechen, ich gehe dran. Es ist der Sohn eines Patienten, den wir wochenlang behandelt hatten – letztlich konnten wir ihm keine Heilung in Aussicht stellen, aber mit Geduld und langem Atem konnten wir ihn so stabilisieren, dass er nach Hause gehen konnte. Jetzt ist er verstorben, wie mir der Sohn mitteilt. – „Oh, das tut mir sehr leid“ sage ich, aber er entgegnet, dass alles gut sei und bedankt sich bei mir. Für Alles. Die ganze Familie sei da gewesen und er war zu Hause. So sollte es für ihn sein, wenn es schon sein musste.
Auch das ist Ankommen.
Ich gehe zurück auf Station. Die Beatmungsmaske des Neuankömmlings ist nicht dicht genug, er ist unruhig, zieht sie sich oft ab, die Werte verschlechtern sich. Wir überlegen wie wir weitermachen.
Er bekommt Schmerzmittel, wir verändern noch einmal die Einstellungen der Maschine, erhöhen den Anteil der Sauerstoffzugabe und reden ihm gut zu, versuchen ihn zu motivieren. Dann warten wir. Und planen verschiedene Therapieoptionen für die nächsten Stunden.
Am Weihnachtsbaum in der Ecke gehen die Lichter an.
Ich beginne bei einem anderen Patienten mit einer Routineuntersuchung und kann sie tatsächlich in Ruhe zu Ende bringen, dann gehe ich wieder zurück in mein Büro, schreibe den Untersuchungsbefund im PC und arbeite ein paar liegengebliebene Dinge der letzten Tage auf. Als ich zurück auf Station komme, laufe ich am Zimmer des vorhin angekommenen Patienten vorbei. Er liegt mit seiner Beatmungsmaske auf dem Gesicht im Bett und versucht Fernsehen zu schauen. Er wirkt deutlich ruhiger, auch wenn ihn das Atmen noch sichtlich anstrengt. Vermutlich ist es immer noch nicht behaglich, aber er fühlt sich wohler und sicherer.
Auch das ist Ankommen.
Endlich können zumindest einige von uns sich für einen kurzen Moment zusammensetzen.
Luft holen. Runterfahren, den Akku aufladen, wenigstens bis Schichtende. Wir essen Schokolade und Lebkuchen, trinken Cappuccino oder Kaffee und lachen laut über schlechte Witze. Wir sind ein Team, das hält uns bei Laune.
Auch das ist Ankommen.
Wenn man zusammen ankommen möchte, sollte man vorher gemeinsam unterwegs gewesen sein. Vielleicht hat mich dieses Projekt deshalb von Anfang an so fasziniert. Wir sind jeder für sich, von zu Hause aus, gemeinsam hier unterwegs und wenn ich mich jetzt auf dem Bildschirm umschaue während ich euch vorlese, dann bin ich angekommen. Im Advent, in einem weiteren tollen Team und am Ende meiner Geschichte.
Auch das ist Ankommen.
Achim Kress, 18. Dezember 2021